Samstag, 8. April 2017

Schmerzflimmern: Leseprobe

Da ich oft nach einer Leseprobe meines Erstlingswerkes gefragt werde, poste ich hier die ersten beiden Kapitel von "Schmerzflimmern". Bisher musste ich alle interessierten Leser auf die "Blick ins Buch" Funktion bei Amazon verweisen, finde es aber irgendwie schöner, auch direkt auf meinem Blog den Zugriff darauf zu ermöglichen. Also gibt es hier die Leseprobe zu Schmerzflimmern 

Klappetext:
Wir rennen unserem unvermeidbaren Ende entgegen. Manche schneller als andere, viele sogar mit offenen Armen. Doch wie würden wir uns wohl verhalten, wenn wir exakt voraussehen könnten, wann, wo und wie jeder einmal stirbt? Gregor, ein junger Rettungssanitäter, muss mit genau diesem Wissen leben. Allgegenwärtige Visionen skurrilster Todesszenarien lassen ihn zynisch und teilnahmslos durch das Leben gehen, ehe eine verblüffende Begegnung nicht nur seine Perspektive, sondern auch den Verlauf seines eigenen Lebens verändert ...

"Schmerzflimmern" ist eine lebensverneinende Mystery-Komödie, der es definitiv nicht an Sarkasmus und Wortwitz mangelt. Der Tod, als ultimative Unannehmlichkeit im sonst so tristen Tagesablauf, tritt dabei in all seinen Facetten auf - er amüsiert, erschreckt, verstört und animiert zum Blick in das eigene Innere.

 


1.
Ich sehe tote Menschen


Sie lächelte sanft, während sie unauffällig ihre Hand ausstreckte, um meine zu berühren. Eigentlich mied ich Berührungen dieser Art so gut ich konnte. Nicht nur, weil es mir großes Unbehagen bereitete, wenn fremde Menschen ohne triftigen Grund so in meine Komfortzone eindrangen. Sondern auch, wegen des unerklärlichen Phänomens, welches sich abspielte, wenn meine Haut in direkten Kontakt mit der Haut anderer Personen geriet.
In diesem Falle war ich allerdings neugierig auf das, was auf mich warten würde, da sich die junge Dame, die sich mit rotem Filzstift »Jeanette« auf ihr Namensschild geschrieben hatte, als eine ziemlich unerträgliche Person herausstellte.
Innerhalb der gesamten 10 Minuten, in denen ich ihr gegenüber saß, erwähnte sie fünfzehn Mal ihre Mopswelpen. Und das, obwohl ich genau null Mal danach gefragt hatte. Generell hatte ich, seit wir uns setzten, noch gar nicht gesprochen, da der Redefluss meiner Gesprächspartnerin eine überdurchschnittlich starke Strömung aufwies. Anders gesagt: Jeanette war eher von der redseligen Sorte. Im Grunde war mir das sogar lieber. Da musste ich weniger von mir selbst erzählen. Es hätte allerdings geholfen, wäre Jeanette ein wenig interessanter gewesen.
Ich übte mich also in geduldigem Zuhören. Immerhin wusste ich nun sehr gut über »Jerry«, »Larry«, »Terry«, »Barry« und »Maverick« Bescheid. Ihrer eigenen Aussage nach, die wohl knuddeligste Rasselbande aller Zeiten. Ich war nicht beeindruckt.
»Was machst du denn so beruflich? Hoffentlich was spannendes. Mein Ex war Totengräber, bevor er wegen schlechten Verhaltens rausgeschmissen wurde. Richtig uncool!«, erzählte sie.
»Interessant. Ich kenne mich in der Branche relativ gut aus«, entgegnete ich so nüchtern und knapp wie ich nur konnte, bevor sie mich wieder unterbrach, um über Möpse zu sprechen. Wir lebten in verschiedenen Welten. Dennoch schien bei ihr der Funke übergesprungen zu sein, weshalb sie, als der Gong ertönte, der beim Speed-Dating den Partnerwechsel signalisierte, ihre Hand auf meine legte.
Dann geschah es wieder. Jede Lichtquelle im Raum wurde rapide schwächer und erlosch. Die Zeit verlangsamte sich bis zum völligen Stillstand, die Welt wurde auf Stand-By geschaltet. Draußen, vor dem Fenster des Cafés, in welchem an jedem ersten Sonnabend im Monat »Speed-Dating für Mittzwanziger« stattfand, blieben plötzlich alle Schneeflocken in der Luft hängen. Ein Taxi, welches an der gegenüberliegenden Kreuzung bremste, zog lange, rot leuchtende Streifen hinter sich her, die ebenfalls, wie durch Geisterhand, starr in der Luft hingen. Auf der anderen Straßenseite, suhlte sich ein streunender Hund in einer Wasserpfütze. Er schüttelte sich wild, als im gleichen Moment die Zeit stehen blieb. Eine Sphäre von Wassertropfen, scheinbar vom Gesetz der Erdanziehungskraft ausgeklammert, umtanzte das dichte Fell des Köters.
Auch die sich für den Wechsel bereitmachenden Paare an den anderen Tischen, waren in ihren Umarmungen und Aufstehbewegungen eingefroren. An diesem Tag war es besser besucht als erwartet, was sich wahrscheinlich auf das Datum zurückführen ließ. Es war Anfang Januar, weshalb sich hier vermutlich das gleiche Klientel einfand, das auch die Fitnessstudios für die nächsten zwei bis drei Wochen verstopfen würde. Kurz nach Silvester weckten gute Vorsätze schließlich den Tatendrang in uns.
An Tisch Vier nieste gerade ein Teilnehmer. Seine Wangen wellten sich und die Haare standen ihm zu Berge. Sogar Jeanettes geplant verführerischer Blick erstarrte vorzeitig, was dafür sorgte, dass sie mich mit einer Prise Down-Syndrom in ihrer Mimik anschaute. Also so, wie man aussah, wenn man beispielsweise Passfotos in einem dieser begehbaren Fotoautomaten machte und dann vom Blitz überrascht wurde.
Doch das war erst der Anfang. Die weniger angenehmen Teile, die Schmerzen und das dumpfe Dröhnen, setzten nun auch langsam ein. An den Druck auf den Ohren und die Ohnmacht, welche ich unmittelbar nach der Berührung verspürte, hatte ich mich mittlerweile gewöhnt. Das Aufwachen in der Zukunft hingegen fühlte sich jedes Mal an, als würde man mich, einen normal gewachsenen Mann, mit Gewalt durch ein Schlüsselloch pressen.
Als der brennende Schmerz langsam abklang, ertastete ich, wo genau ich mich befand. Es war stets von Vorteil herauszufinden, wo man hingeschickt wurde und Orientierung war wichtig, wenn man ein Opfer retten wollte. Es war stockdunkel, was in solchen Situationen niemals ein gutes Zeichen war. Früher war ich sehr darum bemüht, der Person zu helfen, mit der ich in Berührung kam. Wenn ich eine besonders enge Bindung zur Person in Frage hatte, war es mir sogar manchmal möglich, mich in der Vision bemerkbar zu machen. Meistens war ich aber eher wie ein Geist, der daneben stand und gezwungen war mitanzusehen, wie sich der Todesfall abspielen würde. Ohne Mittel und Wege, den Tod abzuwenden. Klar, manchmal konnte ich die Menschen warnen, und somit bestimmte Dinge hinauszögern. Manches lässt sich jedoch niemals ganz aufhalten. Der Tod zum Beispiel, steht weit oben auf dieser Liste.

Jeanette und ich lagen aller Wahrscheinlichkeit nach in einer Truhe. Nur das blasse Licht ihres Handydisplays half mir, mich zurechtzufinden. Schwaches Licht offenbarte mir ihr vor Tränen und verlaufener Schminke aufgequollenes Gesicht. Jeanette war definitiv nicht freiwillig hier. Sie bemerkte natürlich nicht, dass ich neben ihr lag, weshalb ich sie ausführlich nach Hinweisen absuchen konnte. Es war vage zu erkennen, dass sie nicht älter war, als zu dem Zeitpunkt, zu dem wir uns im Café trafen. Die Zukunftsvision zeigte mir also einen zeitnahen Tod. Vielleicht hatte sie noch ein paar Wochen. Vielleicht weniger.
Falten, Tattoos, Narben ... Solche Merkmale waren meist die besten Hinweise darauf, wie weit ich in die Zukunft geschleudert worden war. Jeanette würde jung sterben.
In der Kiste war es stickig und Atmen fiel schwer. Das Holz um uns herum war mit Politur präpariert, und der Untergrund war gepolstert. Mir war direkt klar, woran Jeanette gleich sterben würde. Die verbrauchte Luft schmeckte nach Eisen und Salz. Heiser keuchte sie einen Namen.
»Carsten«, presste sie mit letzten Kräften hinaus, während sie nach Luft rang, wo keine mehr war. Keine Truhe. Ein Sarg. Jeanette war lebendig begraben worden. Offensichtlich von einem Mann namens Carsten.
Sie hatte vermutlich bereits eine ganze Stunde lang geweint, gebettelt, gebetet und geschrien. Blut tropfte vom Deckel des Sarges auf ihr Kinn und lief ihren Hals hinab. Sicher hatte sie aus Verzweiflung versucht, irgendwie mit Gewalt aus dem Sarg zu entfliehen und dabei ihre Fäuste an der Decke blutig geschlagen. Unklug. Ob sie mit dem Handy jemanden erreicht hatte? Wäre Hilfe auf dem Weg, hätte sie nämlich Sauerstoff sparen müssen. Ihre Überlebenschancen waren nun so gering wie der Empfang ihres Handys, mehrere Meter unter der Erde. Ein Sarg wurde in der Regel zwei Meter tief begraben. Wenn Carsten ihr Totengräber war, würde er es nach Vorschrift machen. Unwahrscheinlich, dass sie hier ohne Weiteres gefunden wurde. Sie musste diesem Carsten wohl ziemlich auf die Nerven gegangen sein.
Es war mir zwar in der Regel nicht möglich, in die Geschehnisse einzugreifen, oder während der Vision gar den sich vor mir abspielenden Tod zu verhindern, jedoch konnte ich oft einige Informationen über die Umstände sammeln. Allerdings war es auch dafür bereits zu spät. Sie war tot. Erstickt. Die Körperfunktionen dauerhaft abgeschaltet. Keine Chance, noch etwas zu erfahren. Aus dem Gespräch war eindeutig die Luft raus.
Das war jedes Mal der Moment, in dem ich mich wieder in Luft auflöste und zurück in die Gegenwart katapultiert wurde. Zeitpunkt des Todes: sehr bald.
»Hab ich irgendwas im Gesicht?«, fragte Jeanette mich mit verdutzter Miene. Für sie schien ich lediglich kurz geistig abwesend, während mein Bewusstsein mit ansehen durfte, wie sie demnächst sterben würde.
»Nein, alles bestens. Ich war nur gerade in Gedanken woanders«, entgegnete ich ausweichend, »Es war allerdings sehr nett dich kennen zu lernen. Ich befürchte jedoch, dass der Funke nicht so recht übergesprungen ist. Ich bin mehr so ein Katzenmensch.«
»Mein blöder Exfreund war genauso!«, jammerte sie.
»Dann war er vielleicht auch nicht der Richtige für dich. Möglicherweise solltest du dich auch erst mal eine Weile von Männern fern halten.«
Am nächsten, mit Rosen und Kerzen verzierten Tisch, wartete bereits eine andere Kandidatin auf mich. Sie war von fülliger Statur und speziell für das draußen vorherrschende Winterwetter auffallend knapp bekleidet. Der Alkohol hielt sie scheinbar warm, denn an ihrem Platz stapelten sich bereits einige geleerte Cocktailgläser. Ich hatte keine wirklichen Ansprüche. Doch das war definitiv nicht, wonach ich suchte. Zumindest würde das übliche Vorgeplänkel dadurch etwas interessanter werden. Ihre schwarze, toupierte Mähne verdeckte ihr Namensschild. Sie bemerkte natürlich auch das widerwillig ausgefüllte Papierschild an meiner Brust und streckte mir mit angetrunkener Selbstsicherheit ihre Hand entgegen.
»Hi Gregor, ich bin Tamara! Du hast coole Tattoos, haben die auch eine Bedeutung?«
Man merkte schnell, wie selbst trivialste soziale Interaktionen zum Problem werden konnten, wenn man sich sogar vor einem Händedruck drücken musste. Es war unglaublich, wie viele grauenhafte Bilder mir im Berufsleben erspart geblieben wären, wenn sich Leute zur Begrüßung einfach nur höflich zunicken würden. Gerade Sesselfurzer und Bürofutzis, die für neun Euro die Stunde, jeden Tag von neun bis fünf Uhr, fünf Tage die Woche schlechten Kaffee kochten und Akten schredderten, wurden beim Verwirklichen ihrer Suizidfantasien ganz besonders kreativ. Und mit kreativ meinte ich ekelig. Erste Eindrücke waren allerdings gerade beim Dating von hoher Wichtigkeit, weswegen man manchmal die Zähne zusammenbeißen, und auf einen schnellen und sauberen Schlaganfall hoffen musste.
Ich schüttelte ihre Hand und das Spiel begann von Neuem. Natürlich hatte ich auch dieses Mal kein Glück. Friedliche, natürliche Todesursachen waren ganz schön selten geworden. Möglicherweise lag es aber auch am Speed-Dating. Das zog grausame Tode durch Fremdeinwirkung scheinbar magisch an. In meinen 26 Jahren hatte ich allerdings schon zu viel gesehen, um tatsächlich noch überrascht zu werden. Von meinem Onkel, den bei einer Wanderung buchstäblich der Blitz beim Scheißen traf, bis zu meinem Politiklehrer aus der 9ten Klasse, der in ein paar Jahren mit einem Passagierflugzeug abstürzen würde. Es war schon fast alles mal dabei gewesen. Und eines hatten die meisten Visionen gemeinsam: Direkt daneben zu sitzen, machte definitiv keinen Spaß.

Ich fand mich auf der Rückbank eines, für seinen alten, klapprigen Zustand, ziemlich schnell fahrenden Kleinwagens wieder. Natürlich zugemüllt mit verschiedenen Pfandflaschen, leeren Papiertüten diverser konkurrierender Fastfood-Restaurants, einem kaputten Regenschirm, benutzten Kondomen und massig weiterem Krempel. So war meine Aufmerksamkeit zunächst darauf gerichtet, mir einen halbwegs gemütlichen Sitzplatz freizuschaufeln.
Am Steuer saß eine telefonierende Tamara, die, trotz hoher Geschwindigkeit, relativ entspannt auf eine große Kreuzung zufuhr. Es war sehr früh am Morgen und die Straßen waren schneebedeckt, was jedem in Verbindung mit einem telefonierenden, offensichtlich alkoholisierten Fahrer automatisch großes Unbehagen bereiten sollte.
»Ich hatte gerade einen Dreier!«, japste sie in ihr Handy. »Das waren zwei Typen, die ich vorhin beim Speed-Dating aufgegabelt habe!«
Ich konnte mir schon in etwa vorstellen, worauf diese Szene hinauslaufen würde, weshalb ich mich instinktiv, obwohl mir hier in diesen Visionen kein körperlicher Schaden widerfahren konnte, anschnallte.
»Ja... Es tut mir leid... Ja, versprochen. Aber ich sag dir, die beiden Typen haben meine Löcher so krass gedehnt, dass ich meine Beine nicht mehr spüre. So etwas hartes hatte ich noch nie in mir!«
Wenigstens hatte Tamara noch einen entspannten Lebensabend. Redeten Frauen wirklich so?
»Ich sag dir, nächstes Mal finden wir dir auch einen Stier, der dich so fickt, dass du links nicht mehr von rechts und oben nicht mehr von unten unterscheiden kannst, und ...«
Noch bevor sie ihre tiefschürfenden letzten Worte ausformulieren, und die mit Intensität vorgetragene, spannende Geschichte ihrer promiskuitiven Nacht beenden konnte, riss ein LKW die komplette vordere Hälfte ihres Wagens von seinem Rest ab. Die gute Tamara übersah die für sie geltende rote Ampel, wodurch es der müden LKW-Fahrerin nicht mehr möglich war, rechtzeitig zu bremsen. Stattdessen klaffte dort, wo sich soeben noch Fahrer- und Beifahrersitz, inklusive Tamara, befunden hatten, ein riesiges Loch.
Der LKW schleifte die, durch den Aufprall völlig zerquetschte, Fahrerkabine noch einige Meter mit sich, bevor dieser ebenfalls zum Stehen kam. Ich schnallte mich seelenruhig ab, wischte mir den aufgewirbelten Schneematsch von der Hose und stolperte durch das neue Loch in Tamaras Restauto auf die Kreuzung. Wenige Meter von mir entfernt lag Tamaras Handy, welches, abgesehen von einem Sprung im Glas, nach wie vor einwandfrei zu funktionieren schien. Auch das Telefonat mit ihrer Freundin war nicht unterbrochen worden. Diese fragte, mit klar erkennbarem Schock in der Stimme, ob alles in Ordnung sei. Nun.
Ein Blick in die vollkommen deformierte Fahrerkabine offenbarte ein faszinierendes Bild. Airbags waren definitiv eine gute Sache, halfen allerdings besser, wenn der Aufprall frontal geschah. Von der Seite hingegen wurde der Airbag sogar noch zum Problem. Dieser half lediglich Tamara zu fixieren, während sich ein Teil einer zusammengepressten Autotür durch ihren Brustkorb bohrte, sie wie einen Pflock aufspießte und fest mit dem Fahrzeugwrack verband. Ein großer Teil von mir wollte an dieser Stelle Scherze über harte Dinge, die sie penetrierten machen.
Doch da ich in wenigen Sekunden noch ein Speed-Date mit dieser Dame hatte, sparte ich mir Gedanken dieser Natur ausnahmsweise. Wenigstens würde sie auch nach dem Tod noch mal abgeschleppt werden.

»Und was hat dich dazu bewegt, es mit Speed-Dating zu probieren?«, fragte Tamara, die nun plötzlich wieder mit mir im Café saß und an ihrem sechsten Cocktail schlürfte. Mein Blick wanderte unkontrollierbar immer wieder zwischen ihre Brüste, wo vor wenigen Sekunden noch ein verbogener Stahlbalken herausragte. Warum fühlten sich solche Gespräche immer wie eine Klausur an, für die ich nicht gelernt hatte?
»Ein Bekannter hat mir dazu geraten. Er war der Ansicht, ich müsse mal wieder vor die Tür gehen und mich verfügbar machen«, entgegnete ich zögernd.
»Er hat Recht! Man weiß nie, welche Abenteuer man dabei erlebt«, bestätigte sie kichernd und versuchte verführerisch mit dem Strohhalm in ihrem Cocktailglas zu rühren.
»Und du?«, fragte ich, obwohl ich die Antwort natürlich bereits kannte.
»Ach, nur so zum Spaß. Sag mal, darf ich dich was fragen? Mir ist klar, dass die Frage ziemlich direkt ist, aber ich bin momentan auf diesem Selbstfindungstrip und möchte mein Leben in vollen Zügen genießen. Was denkst du eigentlich über Gruppensex? Ich bekam vorhin ein Angebot für einen Dreier und ich glaube, das probiere ich mal aus.«
Das war in der Regel so ein Moment, in dem im Film dann die Nadel von der Schallplatte sprang, der gesamte Raum in peinliches Schweigen verfiel und den Protagonisten urteilend anschaute.
»Wenn ich zwei Leute gleichzeitig enttäuschen möchte, besuche ich einfach meine Eltern«, antwortete ich abweisend. Vielleicht konnte ich sie unterschwellig dazu bringen, ihre fatale Entscheidung noch mal zu überdenken. So hoffte ich zumindest. Doch mit Subtilität schien man in ihrer aktuellen Verfassung nicht ans Ziel zu kommen.
In diesem Tempo ging es den ganzen Abend weiter. Gong für Gong wurde ich in tragische Todesszenarien junger Frauen geworfen. Eine wurde überfahren und zwei weitere erstochen. Bei einer anderen, ausnahmsweise ganz sympathisch wirkenden Kandidatin, blieben sogar nur noch die stinkenden Gebeine zurück, da sie in ein paar Jahren von einer eifersüchtigen Mitarbeiterin in einem Säurefass aufgelöst werden würde. Manieren waren heutzutage wirklich Mangelware geworden. Wer mir vorwerfen würde, ich hätte von all diesen Szenarien diverse Traumata (und einen riesigen Dachschaden) davongetragen, hatte von mir wenige Widerworte zu erwarten. Ich war mir der Sachlage bewusst und hatte mich damit abgefunden.
Mich über die Menschen lustig machen zu können, war jedoch der seidene Faden, der das über mir baumelnde Schwert daran hinderte, mich mit Schwung zu erstechen. Andererseits dachten andere Menschen insgeheim sicherlich ebenfalls den gemeinsten Scheiß über mich, wozu also die Selbstzensur?
Ein letzter Gong ertönte. Ein letzter Tisch erwartete mich. Eine letzte Frau galt es kennen zu lernen. Die Erlösung schien in greifbarer Nähe.
»Ich bin Elise. Du bist Gregor. Freut mich dich kennen zu lernen. Dich ebenso. Was geht ab?«, feuerte sie mir mit einem fetten Grinsen wie aus der Pistole geschossen entgegen.
Extrovertierte Menschen waren mir nicht geheuer.
»Ich hoffe, du bist nicht böse, wenn ich den Quatsch ein wenig vorspule«, entschuldigte sie sich kichernd.
»Es ist ohnehin schon kurz vor Elf. Letzte Runde. Wir sind beide jeweils die Endstation bei diesem Spielchen und meine Begleitung, die mich übrigens erst dazu überredet hat, hierher zu kommen, hat sich bereits aus dem Staub gemacht. Deswegen denke ich, ist es in unserem gemeinsamen Interesse, das hier so knapp wie möglich zu halten. Also kommen wir direkt zu den wirklich wichtigen Fragen. Was sind deine Top 3 Lieblingstiere?«

Elise war trotz ihrer zierlichen Statur, eine ziemlich einnehmende Persönlichkeit. Ihre freche Lache, die wunderschönen, großen Augen, das lange, braune, leicht gelockte Haar und ihre kleine Zahnlücke taten ihr übriges. Es war, als hätte jemand über Jahre mein Porno-Surfverhalten analysiert und die perfekte Frau für mich geschmiedet.
Ich versuchte cool zu bleiben.
»Nun. Bären, Elefanten und Katzen.«
»Dann habe ich eine Idee. Komm mal mit«, sagte sie, stand auf, wickelte sich einen langen roten Schal um den Hals und griff nach ihrer Jacke samt Rucksack. Ich tat es ihr gleich und schnappte meine Sachen. Immer noch die Finger den richtigen Stellen meiner Handschuhe zuteilend, eilte ich mit ihr aus dem Lokal.
Es war mir selbst ein Rätsel, wieso ich in dieser Situation nicht einmal zögerte. Als wäre ich ein Magnet, der zum ersten Mal auf seinen Gegenpol traf. Bisher war stets alles abstoßend, doch zu Elise fühlte ich mich auf unerklärliche Weise hingezogen.
Elise nahm Anlauf und rutschte über den glatten Asphalt auf die andere Straßenseite. Ich entschied mich dagegen, ihrem Elan nachzueifern. Solche Späße endeten für mich Tollpatsch zwangsläufig durch abrupte Bremsungen mit meinem Gesicht auf dem jeweiligen Untergrund. Ich folgte ihr hastig über eine Kreuzung, wo ich sie das Treppengeländer der U-Bahn-Station hinunterrutschen sah.
»Es ist sau spät und dazu Sonntag. Wohin gehen wir?«, fragte ich, zu gleichen Teilen neugierig und ungeduldig.
»Na, ist doch klar. Wir gehen in den Zoo!«, entgegnete Elise mit einem verschmitzten Lächeln.
Diese Frau war das seltsamste, unberechenbarste und spannendste, was mir je untergekommen war. Und das wollte etwas heißen.
Ich war mal gezwungen mit anzusehen, wie sich ein erwachsener Mann zur Selbstbefriedigung mit einer karierten Krawatte an seinem Deckenventilator aufhing. Autoerotisches Erstickungsspiel nannte sich das, wie ich später durch Wikipedia erfahren hatte. Diese Technologie ermöglichte es uns heutzutage, ohne Aufwand auf verschiedenste Informationen zuzugreifen. Sie war ein Segen. Jedenfalls konnte er auf andere Art keine Selbstbefriedigung mehr erlangen. Der Routine nach zu urteilen, mit der er seine Krawatte zur Schlinge band, machte er solche Aktionen eindeutig öfters.
Dieses Mal wollte er sich allerdings etwas ganz besonders experimentelles gönnen und wurde daher ein bisschen zu übermütig. Er hätte den Ventilator nicht auch noch einschalten dürfen, denn das dadurch ausgelöste Schwindelgefühl raubte ihm die Kraft, sich rechtzeitig aus der eng verknoteten Krawatte zu befreien. So erstickte er schlussendlich und baumelte mit Stufe-3-Schwung eine ganze Weile im Kreis herum. Ohne Hose. Mit voll ausgefahrener Erektion.
Die Leute kamen echt auf die wundersamsten Ideen, wenn sie auf der Suche nach einem neuen Endorphin-Kick waren. Du bist nicht du, wenn du horny bist.


2.
Katzenmenschen


Da saßen wir also. In dieser komplett leeren, mit Graffiti über Tür und Fenster verschmierten U-Bahn, die uns mitten in der Nacht quer durch die Stadt chauffierte. Die grellen Industrielampen im Wagon badeten uns in weißes Licht. Sie erinnerten mich immer an das Krankenhaus, für das ich zu dieser Zeit arbeitete. Klinisch. Steril. Ordentlich. Die Räder der Bahn klackerten gleichmäßig und unnachgiebig über die Schienen unserem Ziel entgegen.
Elise war pures, ungefiltertes Leben. Ihr Kopf war sanft auf meine Schulter gestützt. Natürlich fragte sie nicht, ob mir das zu aufdringlich sei. Sie machte einfach. Sie wusste, dass ich es ihr sowieso erlaubt hätte. Ihr Haar duftete nach Himbeeren. Sie summte ein Lied und klopfte sanft die Schlagzeugspur mit ihren Fingern auf meinem Knie nach. Ich ließ mir nichts anmerken, doch mein ganzer Körper befand sich in höchstem Alarmzustand. Selbst eine zufällige Berührung ihrer Haut, hätte schließlich schreckliches offenbaren können. Trotzdem sehnte ich mich auch danach, mit ihr in Kontakt zu kommen. Dieses Gefühl war nicht neu, jedoch so viel intensiver als ich es in Erinnerung gehabt hatte.
»Ich habe dich den ganzen Abend über beobachtet«, sagte sie, als wäre das eine Info für den Zugwagon und nicht explizit an mich gerichtet. Ich war über diese Aussage verblüfft und ging in Gedanken durch, ob mir irgendwelche Peinlichkeiten widerfahren waren, aus denen ich mich hätte herausreden müssen.
»Warum das?«, fragte ich.
»Ich sehe dich oft morgens am Bahnhof. Du bist dann wahrscheinlich auf deinem Weg zur Arbeit. Oder zur Uni. Oder was du halt um die Zeit so tust. Ich kellnere seit einigen Wochen übergangsweise in einer Bar. Da wird es immer super spät und ich bin oftmals erst am frühen Morgen wieder auf dem Heimweg. Jedenfalls sehe ich dich jeden Tag da, auf dem gegenüberliegenden Gleis, und denk mir Geschichten darüber aus, wie wohl dein Tag so verläuft. Dann, so zirka fünf Minuten nachdem du konstant an mir vorbei in die Ferne gestarrt hast, kommt dein Zug und du bist verschwunden. Doch vorhin ... da sahst du anders aus als sonst. Ein bisschen, als wärst du nicht freiwillig dort gewesen. Was hatte es damit auf sich?«
Reichlich verwirrt über die Tatsache, dass sie mich scheinbar schon länger kannte, antwortete ich:
»Genau genommen hat Mahesh mir dazu geraten, proaktiv an die Sache zu gehen.«
»Wer oder was ist ein Mahesh?«, fragte sie mit einem Stirnrunzeln.
»Mahesh ist mein moralischer Kompass«, erläuterte ich.
»Du bist aber nicht in einer seltsamen Sekte, oder?«
Sie hob ihren Kopf von meiner Schulter und schaute mir direkt in die Augen. Offensichtlich hatte ich es geschafft, sie aus der Reserve zu locken.
»Nein, ich bin bloß Sanitäter«, entgegnete ich schmunzelnd, »und Mahesh ist der Besitzer vom Kiosk, über dem sich meine Wohnung befindet. Er ist älter als ein Stein und hört nicht mehr sonderlich gut. Aber er hat in seinem Leben schon eine Menge erlebt. Deshalb nehme ich seine Empfehlungen ernst. Krieg. Intrigen. Eine Scheidung. Eine Weltreise. Die große Liebe. Er hat Hunderte solcher Geschichten. Es wäre ein Wunder, wenn nicht mindestens ein Dutzend Bollywood-Produktionen auf seinem Leben basieren würden. Ich vertraue ihm also in der Hinsicht. Und wenn man bedenkt, an wie vielen Monatsenden ich sein Instant-Nudel-Regal geplündert habe, sind gute Ratschläge das mindeste, was er mir da mitgeben kann.«
»Glück gehabt«, kicherte sie und tat so, als würde sie sich Schweiß von der Stirn wischen, »Ich dachte schon, ich müsste hier die Notbremse ziehen! Aber dann teile doch mal etwas von seiner Weisheit. Was ist sein ultimativer Dating-Tipp?«
Aus den Lautsprechern des Bahnwagons wurde unsere Haltestelle angesagt.
»Er hat gesagt, man soll sich stets einen Partner suchen, der einem fünf Dinge lehren kann, die man nicht schon wusste. Klingt erst einmal nicht so schwer, aber es soll äußerst effektiv sein. Das sortiert nämlich nicht nur Idioten und Langweiler aus, sondern zeigt auch deutlich, wer sich um dich bemühen würde. Wer sich Gedanken um dich macht, dich beeindrucken will. Es ernst mit dir meint.«
Elise hielt inne und blickte nach oben, als würde sie einen Moment darüber nachdenken.
»Das ist ziemlich clever. Mahesh scheint tatsächlich zu wissen, wovon er redet«, stimmte mir Elise zu, während wir auf das U-Bahn-Gleis traten. Sie trug einen gut gefütterten Armee-Parka, auf den sie an willkürlichen Stellen Aufnäher genäht hatte. Einer davon sah aus wie ein Parkverbotsschild. Im inneren des roten Kreises befand sich allerdings kein Auto, sondern ein Kruzifix. Ein ziemlich eindeutiges Statement. Es war das Logo der Punkband Bad Religion. Sie hatte Geschmack. Ein anderer Aufnäher zeigte das Bild eines Katzenbabys. Darüber prangte das Akronym »ACAB«. Direkt darunter wurde diese Abkürzung, welche man sonst wohl in einem etwas anderen Kontext kannte, mit »All Cats Are Beautiful« erklärt. Elise war eine Rebellin.
»Machst du das eigentlich öfter?«, fragte ich.
»Was meinst du?«, antwortete sie, als ob sie nicht ganz genau wüsste, worauf ich hinaus wollte.
»Nachts irgendwo einbrechen.«
Sie lachte. Meine Knie wurden weich.
»Trägst du etwa eine Wanze?«, fragte sie mit erzwungen ernster Miene, bevor sie wieder ins Lachen zurückfiel.
»Man kann bei solchen Sachen nie vorsichtig genug sein. Ich sollte dich zwingen all deine Kleidung abzulegen! Aber da es wohl bei dieser Kälte eh nicht viel zu sehen geben würde, belasse ich es vorerst bei einer Verwarnung.«
»Wie gütig von Ihnen«, antwortete ich scherzhaft.
Sie wandte den Blick von mir ab, als wir vor den Toren des geschlossenen Zoos ankamen. Offensichtlich suchte sie eine Schwachstelle in den unbezwingbaren Verteidigungsanlagen der Burg, die es zu infiltrieren galt.
»Ich muss allerdings gestehen, dass ich schon länger mit dem Gedanken spiele, eines Nachts alle Gehege in diesem Gefängnis zu öffnen.«
»Wow. Das ist ja ganz schön drastisch.«
»Manchmal muss man halt ein wenig nachhelfen. Sorg dafür, dass sich die 10 reichsten Männer der Welt mit HIV infizieren. Was wird passieren?«
»Vermutlich werden dann, binnen kürzester Zeit, wie durch Zauberhand zehn verschiedene Heilmittel entdeckt.«
»Bingo!«, sagte sie trocken, bevor sie ihren Rucksack mit geübter Leichtigkeit über die Mauer warf.
»Und nun sei ein Gentleman, und hilf deiner Dame über die Mauer.«
Meine Dame. Hm.
Daran hätte ich mich gewöhnen können.
Elise war eine Naturkatastrophe. Eine Lawine. Ein Wirbelsturm. Langsam verstand ich, warum Unwetter im Fernsehen immer Frauennamen trugen. Sie hatte mich im Sturm erobert.
Es handelte sich um einen kleinen, wenig besuchten und mittlerweile in die Jahre gekommenen Zoo. Wachpersonal und Alarmanlagen gab es nicht.
»Was ist, wenn wir auf der Videoüberwachung auftauchen? Die müssen dich doch sicher längst kennen«, bohrte ich nach, während ich ihren Hintern über die Mauer schob.
»Oh, ich muss auf deinem Beipackzettel wohl übersehen haben, dass du Spuren von Feigheit enthalten könntest«, feuerte Elise zurück.
»Selbst wenn wir davon erfasst werden. Solange wir alles so hinterlassen wie wir es vorfinden, gibt es für die Zoobetreiber keinen Grund, sich die Aufnahmen anzuschauen. Oder denkst du wirklich, dass sie sich in Zeiten von Netflix tatsächlich jeden Tag die Überwachungsbänder reinziehen? Abgesehen davon, hat die Stadt gar nicht mehr die Kohle, um all die Technik und Instandhaltung zu bezahlen. Diese Kameras sind aller Wahrscheinlichkeit nach sowieso Attrappen.«
Ihre Schlagfertigkeit konnte selbst routinierteste Stand-Up-Comedians schachmatt setzen. Ich hätte ihr geraten, Politik zu machen, wenn ich nicht das Gefühl gehabt hätte, dass sie das ihrer Meinung nach doch schon längst tat. Stattdessen versuchte ich, mehr über sie zu erfahren.
»Was ist denn eigentlich dein Lieblingstier?«
»Ich mag alle Tiere«, erklärte sie, »Aber wenn ich selber eins sein könnte, wäre ich vermutlich ein Shrimp.«
»Ein was?«, fragte ich verblüfft.
»Ein Shrimp. Eine kleine Garnele. Du weißt schon, diese kleinen Krabbentierchen, die am Meeresboden rumkrebsen und ein bisschen wie Penisse von alten Männern aussehen.«
Reichlich verwirrt über die Antwort, hakte ich nach.
»Ich weiß, was Shrimps sind. Aber warum möchtest du ausgerechnet das sein?«
»Ich hab mal gelesen, Shrimps haben ihr Herz im Kopf. Und jetzt überlege mal, wie viele schlechte Entscheidungen dir erspart geblieben wären, wenn du sie ausschließlich mit dem Kopf getroffen hättest!«
»Einige«, stimmte ich ihr knapp zu.

Wir erreichten die erste Anlage. Es war der Streichelzoo. Natürlich waren die Ziegen und Ponys, aber auch die Flamingos, Elefanten und Nilpferde, die in den anderen Gehegen anzutreffen waren, um diese Jahreszeit, und vor allem Nachts, nicht mehr draußen.
»Ich hatte gehofft, ein Pferd zu sehen«, seufzte Elise.
»Wow. Ich hätte nicht gedacht, dass du ein Pferde-Mädchen bist«, entfuhr es mir erstaunt.
»Oh, wenn du wüsstest! Ich liebe Pferde. Ich wurde sogar von einem entjungfert.«
»Wie bitte?!«, prustete ich heraus.
Elise lachte herzhaft über meine Reaktion.
»Nicht so wie du jetzt denkst, du Ekel! Ich war mit elf oder zwölf Jahren große Reitsportenthusiastin. Und bei jungen Mädchen kann dann beim Reiten auch das Jungfernhäutchen reißen.«
»Entjungpferd also«, sagte ich.
Sie rollte mit ihren großen Augen, lachte dann aber noch lauter. Wir verstanden uns außerordentlich gut und es fühlte sich sofort an, als würden wir auf derselben Wellenlänge surfen.

Elise streckte mir einladend ihre Hand entgegen und neigte erwartungsvoll ihren Kopf zur Seite. Ich erstarrte für einen Moment vor Angst, sie berühren zu müssen, bis ich realisierte, dass ich ja noch Handschuhe trug. Ungeduldig griff sie einfach nach mir. Ich kniff die Augen zusammen und spürte einen Ruck. Elise zog mich am Arm weiter den Pfad entlang. Ich Idiot. Ihre Schönheit war regelrecht betäubend. Sie strahlte wie eine Supernova, alles und jeden in Licht einhüllend. Sie brannte wie ein Meteor, der auf die Erde krachte. Und man konnte sich nicht einmal sicher sein, ob sie darüber Bescheid wusste. Meine Theorie: Sie wusste es ganz genau. Es war ihr nur absolut scheißegal.

Bei den Seelöwen erzählte sie mir, dass es rosafarbene Delfine gab. Und weshalb Delfine ihr Image als liebenswürdige und friedliche Tiere gar nicht verdienten.
»Die Männchen drücken oft Jungtiere so lang unter Wasser, bis diese ersticken, damit die zeugungsfähigen Weibchen wieder früher Lust auf Sex haben. Auch Gruppenvergewaltigung ist bei denen nicht unüblich. Und dann lächeln dich Delfine die ganze Zeit noch so eiskalt an«, schilderte sie. Sex und all die kleinen Spielchen, die man spielen musste, um welchen zu haben, waren also nicht nur beim Menschen total bescheuert.
Beim haarigen Haufen friedlich schlafender, miteinander kuschelnder Alpakas, kamen wir uns erstmals näher, und als wir uns bei den Pinguinen, deren Paarungsrufe man im gesamten Zoo vernahm, auf einen großen Felsen setzten, wurden auch die Themen ernster.
»Meine Mutter hat Krebs im Endstadium. Sie wird nicht mehr lange durchhalten«, berichtete ich ihr, worauf sie, vermutlich nicht wissend, was das angemessene Verhalten bei solchen Informationen war, mit Schweigen reagierte.
»Ich besuche sie so oft ich kann. Aber ich bin schon sehr, sehr lange auf den Moment vorbereitet, wenn sie von uns geht. Auch die Ärzte geben ihr nicht mehr lange«, erzählte ich.
»Wie kann man auf so etwas vorbereitet sein?«, fragte sie, während wir es uns auf diesem Felsen gemütlich machten, von dem aus der Tierpfleger sonst seinen antarktischen Untertanen sonst immer kleine Fische zur Belustigung des Publikums zuwarf.
»Glaub mir, das ist schwer zu erklären«, wich ich kopfschüttelnd aus.
»Doch ich bin froh, dass sie so lang durchgehalten hat. Sie war immer eine Kämpfernatur und diente mir oft als Vorbild. Wenn sie trotz der Krankheit ein Kind erziehen konnte, dann würde ich auch die nächste Matheklausur überleben.«
Ich merkte, dass ihr gefiel, wie ich über meine Erziehung sprach. Es war ungewohnt, dass eine Frau solches Interesse an mir zeigte.
»Du erinnerst dich trotz allem also positiv an deine Kindheit?«
Ich zögerte ein wenig, von den wirklich negativen Dingen anzufangen, schließlich war das hier ja gerade mal unser erstes Date.
»Ich habe Probleme mich an bestimmte Dinge zu erinnern. Klar, niemand weiß mehr jedes einzelne Detail darüber, was man als Kind alles gemacht oder erlebt hat. Aber es gibt bei mir in der Hinsicht die ein oder andere Lücke. Dinge, die ich vermutlich nicht grundlos verdrängt habe«, sinnierte ich.
Meine Antwort war ehrlich. Zum Beispiel wusste ich nicht, wann oder warum genau ich diese Zukunftsvisionen hatte. Natürlich hatte ich nicht vor, sie in dieses Geheimnis einzuweihen. Davon zu erzählen, dass man von toten Menschen heimgesucht wurde, war niemals eine gute Idee, nicht mal, wenn sie Bruce Willis wäre. Es sei denn natürlich, ich hätte nach einem Weg gesucht, eine einstweilige Verfügung gegen mich erwirken zu lassen. Doch mir war bereits klar, dass ich sie nach dieser Nacht unbedingt wiedersehen wollte.
Der Mond spiegelte sich im weitläufigen Pool der Anlage, an dessen Ufer einige Pinguine miteinander verkehrten. Fast romantisch.
»Warst du schon mal so richtig verliebt?«, fragte sie mich, vermutlich, um das Thema zu wechseln.
»Ich bin nicht sicher«, antwortete ich ehrlich, »Rückblickend ist es schwer zu bewerten, was man sich so eingeredet hat. Und du? Abgesehen von deinem One-Night-Stand mit Jolly Jumper, versteht sich.«
Da war es wieder. Dieses erfrischende Lachen. Sie holte eine Thermoskanne aus ihrem Rucksack und schenkte uns Tee ein, während Pinguine vergeblich nach unseren, in ihr Gehege baumelnden, Füßen schnappten.
»Zoophilie ist eine ernste Sache!«, erklärte sie mit unverwechselbar sarkastischem Unterton.
»Wusstest du, dass Dänemark, aufgrund seiner liberalen Gesetzeslage in diesem Bereich, das Thailand der Tiersex-Touristen ist? Es gibt dort professionell betriebene Tierbordelle.«
»Nein, das war mir gänzlich neu«, sagte ich lachend, eindeutig überfordert von diesen Informationen. Sie seufzte kurz und rückte dann noch näher zu mir auf.
»Dann war das aber eine ganz schön unromantische Nummer Fünf.«
»Nummer Fünf? Wovon redest du?«, fragte ich sie mit einem ziemlich verwirrten Gesichtsausdruck.
»Ja, Nummer Fünf! Denk an die Worte deines Jedi-Meisters Mahesh. Das war jetzt die fünfte Sache, die ich dir beigebracht habe«, erklärte sie und küsste mich auf den Mund.

...

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