Da ich oft nach einer Leseprobe meines Erstlingswerkes gefragt werde, poste ich hier die ersten beiden Kapitel von "Schmerzflimmern". Bisher musste ich alle interessierten Leser auf die "Blick ins Buch" Funktion bei Amazon verweisen, finde es aber irgendwie schöner, auch direkt auf meinem Blog den Zugriff darauf zu ermöglichen. Also gibt es hier die Leseprobe zu Schmerzflimmern
Klappetext:
Wir rennen unserem unvermeidbaren Ende entgegen. Manche schneller als
andere, viele sogar mit offenen Armen. Doch wie würden wir uns wohl
verhalten, wenn wir exakt voraussehen könnten, wann, wo und wie jeder
einmal stirbt? Gregor, ein junger Rettungssanitäter, muss mit genau
diesem Wissen leben. Allgegenwärtige Visionen skurrilster Todesszenarien
lassen ihn zynisch und teilnahmslos durch das Leben gehen, ehe eine
verblüffende Begegnung nicht nur seine Perspektive, sondern auch den
Verlauf seines eigenen Lebens verändert ...
"Schmerzflimmern" ist eine lebensverneinende Mystery-Komödie, der es definitiv nicht an Sarkasmus und Wortwitz mangelt. Der Tod, als ultimative Unannehmlichkeit im sonst so tristen Tagesablauf, tritt dabei in all seinen Facetten auf - er amüsiert, erschreckt, verstört und animiert zum Blick in das eigene Innere.
1.
Ich
sehe tote Menschen
Sie
lächelte sanft, während sie unauffällig ihre Hand ausstreckte, um
meine zu berühren. Eigentlich mied ich Berührungen dieser Art so
gut ich konnte. Nicht nur, weil es mir großes Unbehagen bereitete,
wenn fremde Menschen ohne triftigen Grund so in meine Komfortzone
eindrangen. Sondern auch, wegen des unerklärlichen Phänomens,
welches sich abspielte, wenn meine Haut in direkten Kontakt mit der
Haut anderer Personen geriet.
In
diesem Falle war ich allerdings neugierig auf das, was auf mich
warten würde, da sich die junge Dame, die sich mit rotem Filzstift
»Jeanette« auf ihr Namensschild geschrieben hatte, als eine
ziemlich unerträgliche Person herausstellte.
Innerhalb
der gesamten 10 Minuten, in denen ich ihr gegenüber saß, erwähnte
sie fünfzehn Mal ihre Mopswelpen. Und das, obwohl ich genau null Mal
danach gefragt hatte. Generell hatte ich, seit wir uns setzten, noch
gar nicht gesprochen, da der Redefluss meiner Gesprächspartnerin
eine überdurchschnittlich starke Strömung aufwies. Anders gesagt:
Jeanette war eher von der redseligen Sorte. Im Grunde war mir das
sogar lieber. Da musste ich weniger von mir selbst erzählen. Es
hätte allerdings geholfen, wäre Jeanette ein wenig interessanter
gewesen.
Ich
übte mich also in geduldigem Zuhören. Immerhin wusste ich nun sehr
gut über »Jerry«, »Larry«, »Terry«, »Barry« und »Maverick«
Bescheid. Ihrer eigenen Aussage nach, die wohl knuddeligste
Rasselbande aller Zeiten. Ich war nicht beeindruckt.
»Was
machst du denn so beruflich? Hoffentlich was spannendes. Mein Ex war
Totengräber, bevor er wegen schlechten Verhaltens rausgeschmissen
wurde. Richtig uncool!«, erzählte sie.
»Interessant.
Ich kenne mich in der Branche relativ gut aus«, entgegnete ich so
nüchtern und knapp wie ich nur konnte, bevor sie mich wieder
unterbrach, um über Möpse zu sprechen. Wir lebten in verschiedenen
Welten. Dennoch schien bei ihr der Funke übergesprungen zu sein,
weshalb sie, als der Gong ertönte, der beim Speed-Dating den
Partnerwechsel signalisierte, ihre Hand auf meine legte.
Dann
geschah es wieder. Jede Lichtquelle im Raum wurde rapide schwächer
und erlosch. Die Zeit verlangsamte sich bis zum völligen Stillstand,
die Welt wurde auf Stand-By geschaltet. Draußen, vor dem Fenster des
Cafés, in welchem an jedem ersten Sonnabend im Monat »Speed-Dating
für Mittzwanziger« stattfand, blieben plötzlich alle Schneeflocken
in der Luft hängen. Ein Taxi, welches an der gegenüberliegenden
Kreuzung bremste, zog lange, rot leuchtende Streifen hinter sich her,
die ebenfalls, wie durch Geisterhand, starr in der Luft hingen. Auf
der anderen Straßenseite, suhlte sich ein streunender Hund in einer
Wasserpfütze. Er schüttelte sich wild, als im gleichen Moment die
Zeit stehen blieb. Eine Sphäre von Wassertropfen, scheinbar vom
Gesetz der Erdanziehungskraft ausgeklammert, umtanzte das dichte Fell
des Köters.
Auch
die sich für den Wechsel bereitmachenden Paare an den anderen
Tischen, waren in ihren Umarmungen und Aufstehbewegungen eingefroren.
An diesem Tag war es besser besucht als erwartet, was sich
wahrscheinlich auf das Datum zurückführen ließ. Es war Anfang
Januar, weshalb sich hier vermutlich das gleiche Klientel einfand,
das auch die Fitnessstudios für die nächsten zwei bis drei Wochen
verstopfen würde. Kurz nach Silvester weckten gute Vorsätze
schließlich den Tatendrang in uns.
An
Tisch Vier nieste gerade ein Teilnehmer. Seine Wangen wellten sich
und die Haare standen ihm zu Berge. Sogar Jeanettes geplant
verführerischer Blick erstarrte vorzeitig, was dafür sorgte, dass
sie mich mit einer Prise Down-Syndrom in ihrer Mimik anschaute. Also
so, wie man aussah, wenn man beispielsweise Passfotos in einem dieser
begehbaren Fotoautomaten machte und dann vom Blitz überrascht wurde.
Doch
das war erst der Anfang. Die weniger angenehmen Teile, die Schmerzen
und das dumpfe Dröhnen, setzten nun auch langsam ein. An den Druck
auf den Ohren und die Ohnmacht, welche ich unmittelbar nach der
Berührung verspürte, hatte ich mich mittlerweile gewöhnt. Das
Aufwachen in der Zukunft hingegen fühlte sich jedes Mal an, als
würde man mich, einen normal gewachsenen Mann, mit Gewalt durch ein
Schlüsselloch pressen.
Als
der brennende Schmerz langsam abklang, ertastete ich, wo genau ich
mich befand. Es war stets von Vorteil herauszufinden, wo man
hingeschickt wurde und Orientierung war wichtig, wenn man ein Opfer
retten wollte. Es war stockdunkel, was in solchen Situationen niemals
ein gutes Zeichen war. Früher war ich sehr darum bemüht, der Person
zu helfen, mit der ich in Berührung kam. Wenn ich eine besonders
enge Bindung zur Person in Frage hatte, war es mir sogar manchmal
möglich, mich in der Vision bemerkbar zu machen. Meistens war ich
aber eher wie ein Geist, der daneben stand und gezwungen war
mitanzusehen, wie sich der Todesfall abspielen würde. Ohne Mittel
und Wege, den Tod abzuwenden. Klar, manchmal konnte ich die Menschen
warnen, und somit bestimmte Dinge hinauszögern. Manches lässt sich
jedoch niemals ganz aufhalten. Der Tod zum Beispiel, steht weit oben
auf dieser Liste.
Jeanette
und ich lagen aller Wahrscheinlichkeit nach in einer Truhe. Nur das
blasse Licht ihres Handydisplays half mir, mich zurechtzufinden.
Schwaches Licht offenbarte mir ihr vor Tränen und verlaufener
Schminke aufgequollenes Gesicht. Jeanette war definitiv nicht
freiwillig hier. Sie bemerkte natürlich nicht, dass ich neben ihr
lag, weshalb ich sie ausführlich nach Hinweisen absuchen konnte. Es
war vage zu erkennen, dass sie nicht älter war, als zu dem
Zeitpunkt, zu dem wir uns im Café trafen. Die Zukunftsvision zeigte
mir also einen zeitnahen Tod. Vielleicht hatte sie noch ein paar
Wochen. Vielleicht weniger.
Falten,
Tattoos, Narben ... Solche Merkmale waren meist die besten Hinweise
darauf, wie weit ich in die Zukunft geschleudert worden war. Jeanette
würde jung sterben.
In
der Kiste war es stickig und Atmen fiel schwer. Das Holz um uns herum
war mit Politur präpariert, und der Untergrund war gepolstert. Mir
war direkt klar, woran Jeanette gleich sterben würde. Die
verbrauchte Luft schmeckte nach Eisen und Salz. Heiser keuchte sie
einen Namen.
»Carsten«,
presste sie mit letzten Kräften hinaus, während sie nach Luft rang,
wo keine mehr war. Keine Truhe. Ein Sarg. Jeanette war lebendig
begraben worden. Offensichtlich von einem Mann namens Carsten.
Sie
hatte vermutlich bereits eine ganze Stunde lang geweint, gebettelt,
gebetet und geschrien. Blut tropfte vom Deckel des Sarges auf ihr
Kinn und lief ihren Hals hinab. Sicher hatte sie aus Verzweiflung
versucht, irgendwie mit Gewalt aus dem Sarg zu entfliehen und dabei
ihre Fäuste an der Decke blutig geschlagen. Unklug. Ob sie mit dem
Handy jemanden erreicht hatte? Wäre Hilfe auf dem Weg, hätte sie
nämlich Sauerstoff sparen müssen. Ihre Überlebenschancen waren nun
so gering wie der Empfang ihres Handys, mehrere Meter unter der Erde.
Ein Sarg wurde in der Regel zwei Meter tief begraben. Wenn Carsten
ihr Totengräber war, würde er es nach Vorschrift machen.
Unwahrscheinlich, dass sie hier ohne Weiteres gefunden wurde. Sie
musste diesem Carsten wohl ziemlich auf die Nerven gegangen sein.
Es
war mir zwar in der Regel nicht möglich, in die Geschehnisse
einzugreifen, oder während der Vision gar den sich vor mir
abspielenden Tod zu verhindern, jedoch konnte ich oft einige
Informationen über die Umstände sammeln. Allerdings war es auch
dafür bereits zu spät. Sie war tot. Erstickt. Die Körperfunktionen
dauerhaft abgeschaltet. Keine Chance, noch etwas zu erfahren. Aus dem
Gespräch war eindeutig die Luft raus.
Das
war jedes Mal der Moment, in dem ich mich wieder in Luft auflöste
und zurück in die Gegenwart katapultiert wurde. Zeitpunkt des Todes:
sehr bald.
»Hab
ich irgendwas im Gesicht?«, fragte Jeanette mich mit verdutzter
Miene. Für sie schien ich lediglich kurz geistig abwesend, während
mein Bewusstsein mit ansehen durfte, wie sie demnächst sterben
würde.
»Nein,
alles bestens. Ich war nur gerade in Gedanken woanders«, entgegnete
ich ausweichend, »Es war allerdings sehr nett dich kennen zu lernen.
Ich befürchte jedoch, dass der Funke nicht so recht übergesprungen
ist. Ich bin mehr so ein Katzenmensch.«
»Mein
blöder Exfreund war genauso!«, jammerte sie.
»Dann
war er vielleicht auch nicht der Richtige für dich. Möglicherweise
solltest du dich auch erst mal eine Weile von Männern fern halten.«
Am
nächsten, mit Rosen und Kerzen verzierten Tisch, wartete bereits
eine andere Kandidatin auf mich. Sie war von fülliger Statur und
speziell für das draußen vorherrschende Winterwetter auffallend
knapp bekleidet. Der Alkohol hielt sie scheinbar warm, denn an ihrem
Platz stapelten sich bereits einige geleerte Cocktailgläser. Ich
hatte keine wirklichen Ansprüche. Doch das war definitiv nicht,
wonach ich suchte. Zumindest würde das übliche Vorgeplänkel
dadurch etwas interessanter werden. Ihre schwarze, toupierte Mähne
verdeckte ihr Namensschild. Sie bemerkte natürlich auch das
widerwillig ausgefüllte Papierschild an meiner Brust und streckte
mir mit angetrunkener Selbstsicherheit ihre Hand entgegen.
»Hi
Gregor, ich bin Tamara! Du hast coole Tattoos, haben die auch eine
Bedeutung?«
Man
merkte schnell, wie selbst trivialste soziale Interaktionen zum
Problem werden konnten, wenn man sich sogar vor einem Händedruck
drücken musste. Es war unglaublich, wie viele grauenhafte Bilder mir
im Berufsleben erspart geblieben wären, wenn sich Leute zur
Begrüßung einfach nur höflich zunicken würden. Gerade
Sesselfurzer und Bürofutzis, die für neun Euro die Stunde, jeden
Tag von neun bis fünf Uhr, fünf Tage die Woche schlechten Kaffee
kochten und Akten schredderten, wurden beim Verwirklichen ihrer
Suizidfantasien ganz besonders kreativ. Und mit kreativ meinte ich
ekelig. Erste Eindrücke waren allerdings gerade beim Dating von
hoher Wichtigkeit, weswegen man manchmal die Zähne zusammenbeißen,
und auf einen schnellen und sauberen Schlaganfall hoffen musste.
Ich
schüttelte ihre Hand und das Spiel begann von Neuem. Natürlich
hatte ich auch dieses Mal kein Glück. Friedliche, natürliche
Todesursachen waren ganz schön selten geworden. Möglicherweise lag
es aber auch am Speed-Dating. Das zog grausame Tode durch
Fremdeinwirkung scheinbar magisch an. In meinen 26 Jahren hatte ich
allerdings schon zu viel gesehen, um tatsächlich noch überrascht zu
werden. Von meinem Onkel, den bei einer Wanderung buchstäblich der
Blitz beim Scheißen traf, bis zu meinem Politiklehrer aus der 9ten
Klasse, der in ein paar Jahren mit einem Passagierflugzeug abstürzen
würde. Es war schon fast alles mal dabei gewesen. Und eines hatten
die meisten Visionen gemeinsam: Direkt daneben zu sitzen, machte
definitiv keinen Spaß.
Ich
fand mich auf der Rückbank eines, für seinen alten, klapprigen
Zustand, ziemlich schnell fahrenden Kleinwagens wieder. Natürlich
zugemüllt mit verschiedenen Pfandflaschen, leeren Papiertüten
diverser konkurrierender Fastfood-Restaurants, einem kaputten
Regenschirm, benutzten Kondomen und massig weiterem Krempel. So war
meine Aufmerksamkeit zunächst darauf gerichtet, mir einen halbwegs
gemütlichen Sitzplatz freizuschaufeln.
Am
Steuer saß eine telefonierende Tamara, die, trotz hoher
Geschwindigkeit, relativ entspannt auf eine große Kreuzung zufuhr.
Es war sehr früh am Morgen und die Straßen waren schneebedeckt, was
jedem in Verbindung mit einem telefonierenden, offensichtlich
alkoholisierten Fahrer automatisch großes Unbehagen bereiten sollte.
»Ich
hatte gerade einen Dreier!«, japste sie in ihr Handy. »Das waren
zwei Typen, die ich vorhin beim Speed-Dating aufgegabelt habe!«
Ich
konnte mir schon in etwa vorstellen, worauf diese Szene hinauslaufen
würde, weshalb ich mich instinktiv, obwohl mir hier in diesen
Visionen kein körperlicher Schaden widerfahren konnte, anschnallte.
»Ja...
Es tut mir leid... Ja, versprochen. Aber ich sag dir, die beiden
Typen haben meine Löcher so krass gedehnt, dass ich meine Beine
nicht mehr spüre. So etwas hartes hatte ich noch nie in mir!«
Wenigstens
hatte Tamara noch einen entspannten Lebensabend. Redeten Frauen
wirklich so?
»Ich
sag dir, nächstes Mal finden wir dir auch einen Stier, der dich so
fickt, dass du links nicht mehr von rechts und oben nicht mehr von
unten unterscheiden kannst, und ...«
Noch
bevor sie ihre tiefschürfenden letzten Worte ausformulieren, und die
mit Intensität vorgetragene, spannende Geschichte ihrer
promiskuitiven Nacht beenden konnte, riss ein LKW die komplette
vordere Hälfte ihres Wagens von seinem Rest ab. Die gute Tamara
übersah die für sie geltende rote Ampel, wodurch es der müden
LKW-Fahrerin nicht mehr möglich war, rechtzeitig zu bremsen.
Stattdessen klaffte dort, wo sich soeben noch Fahrer- und
Beifahrersitz, inklusive Tamara, befunden hatten, ein riesiges Loch.
Der
LKW schleifte die, durch den Aufprall völlig zerquetschte,
Fahrerkabine noch einige Meter mit sich, bevor dieser ebenfalls zum
Stehen kam. Ich schnallte mich seelenruhig ab, wischte mir den
aufgewirbelten Schneematsch von der Hose und stolperte durch das neue
Loch in Tamaras Restauto auf die Kreuzung. Wenige Meter von mir
entfernt lag Tamaras Handy, welches, abgesehen von einem Sprung im
Glas, nach wie vor einwandfrei zu funktionieren schien. Auch das
Telefonat mit ihrer Freundin war nicht unterbrochen worden. Diese
fragte, mit klar erkennbarem Schock in der Stimme, ob alles in
Ordnung sei. Nun.
Ein
Blick in die vollkommen deformierte Fahrerkabine offenbarte ein
faszinierendes Bild. Airbags waren definitiv eine gute Sache, halfen
allerdings besser, wenn der Aufprall frontal geschah. Von der Seite
hingegen wurde der Airbag sogar noch zum Problem. Dieser half
lediglich Tamara zu fixieren, während sich ein Teil einer
zusammengepressten Autotür durch ihren Brustkorb bohrte, sie wie
einen Pflock aufspießte und fest mit dem Fahrzeugwrack verband. Ein
großer Teil von mir wollte an dieser Stelle Scherze über harte
Dinge, die sie penetrierten machen.
Doch
da ich in wenigen Sekunden noch ein Speed-Date mit dieser Dame hatte,
sparte ich mir Gedanken dieser Natur ausnahmsweise. Wenigstens würde
sie auch nach dem Tod noch mal abgeschleppt werden.
»Und
was hat dich dazu bewegt, es mit Speed-Dating zu probieren?«, fragte
Tamara, die nun plötzlich wieder mit mir im Café saß und an ihrem
sechsten Cocktail schlürfte. Mein Blick wanderte unkontrollierbar
immer wieder zwischen ihre Brüste, wo vor wenigen Sekunden noch ein
verbogener Stahlbalken herausragte. Warum fühlten sich solche
Gespräche immer wie eine Klausur an, für die ich nicht gelernt
hatte?
»Ein
Bekannter hat mir dazu geraten. Er war der Ansicht, ich müsse mal
wieder vor die Tür gehen und mich verfügbar machen«, entgegnete
ich zögernd.
»Er
hat Recht! Man weiß nie, welche Abenteuer man dabei erlebt«,
bestätigte sie kichernd und versuchte verführerisch mit dem
Strohhalm in ihrem Cocktailglas zu rühren.
»Und
du?«, fragte ich, obwohl ich die Antwort natürlich bereits kannte.
»Ach,
nur so zum Spaß. Sag mal, darf ich dich was fragen? Mir ist klar,
dass die Frage ziemlich direkt ist, aber ich bin momentan auf diesem
Selbstfindungstrip und möchte mein Leben in vollen Zügen genießen.
Was denkst du eigentlich über Gruppensex? Ich bekam vorhin ein
Angebot für einen Dreier und ich glaube, das probiere ich mal aus.«
Das
war in der Regel so ein Moment, in dem im Film dann die Nadel von der
Schallplatte sprang, der gesamte Raum in peinliches Schweigen verfiel
und den Protagonisten urteilend anschaute.
»Wenn
ich zwei Leute gleichzeitig enttäuschen möchte, besuche ich einfach
meine Eltern«, antwortete ich abweisend. Vielleicht konnte ich sie
unterschwellig dazu bringen, ihre fatale Entscheidung noch mal zu
überdenken. So hoffte ich zumindest. Doch mit Subtilität schien man
in ihrer aktuellen Verfassung nicht ans Ziel zu kommen.
In
diesem Tempo ging es den ganzen Abend weiter. Gong für Gong wurde
ich in tragische Todesszenarien junger Frauen geworfen. Eine wurde
überfahren und zwei weitere erstochen. Bei einer anderen,
ausnahmsweise ganz sympathisch wirkenden Kandidatin, blieben sogar
nur noch die stinkenden Gebeine zurück, da sie in ein paar Jahren
von einer eifersüchtigen Mitarbeiterin in einem Säurefass aufgelöst
werden würde. Manieren waren heutzutage wirklich Mangelware
geworden. Wer mir vorwerfen würde, ich hätte von all diesen
Szenarien diverse Traumata (und einen riesigen Dachschaden)
davongetragen, hatte von mir wenige Widerworte zu erwarten. Ich war
mir der Sachlage bewusst und hatte mich damit abgefunden.
Mich
über die Menschen lustig machen zu können, war jedoch der seidene
Faden, der das über mir baumelnde Schwert daran hinderte, mich mit
Schwung zu erstechen. Andererseits dachten andere Menschen insgeheim
sicherlich ebenfalls den gemeinsten Scheiß über mich, wozu also die
Selbstzensur?
Ein
letzter Gong ertönte. Ein letzter Tisch erwartete mich. Eine letzte
Frau galt es kennen zu lernen. Die Erlösung schien in greifbarer
Nähe.
»Ich
bin Elise. Du bist Gregor. Freut mich dich kennen zu lernen. Dich
ebenso. Was geht ab?«, feuerte sie mir mit einem fetten Grinsen wie
aus der Pistole geschossen entgegen.
Extrovertierte
Menschen waren mir nicht geheuer.
»Ich
hoffe, du bist nicht böse, wenn ich den Quatsch ein wenig vorspule«,
entschuldigte sie sich kichernd.
»Es
ist ohnehin schon kurz vor Elf. Letzte Runde. Wir sind beide jeweils
die Endstation bei diesem Spielchen und meine Begleitung, die mich
übrigens erst dazu überredet hat, hierher zu kommen, hat sich
bereits aus dem Staub gemacht. Deswegen denke ich, ist es in unserem
gemeinsamen Interesse, das hier so knapp wie möglich zu halten. Also
kommen wir direkt zu den wirklich wichtigen Fragen. Was sind deine
Top 3 Lieblingstiere?«
Elise
war trotz ihrer zierlichen Statur, eine ziemlich einnehmende
Persönlichkeit. Ihre freche Lache, die wunderschönen, großen
Augen, das lange, braune, leicht gelockte Haar und ihre kleine
Zahnlücke taten ihr übriges. Es war, als hätte jemand über Jahre
mein Porno-Surfverhalten analysiert und die perfekte Frau für mich
geschmiedet.
Ich
versuchte cool zu bleiben.
»Nun.
Bären, Elefanten und Katzen.«
»Dann
habe ich eine Idee. Komm mal mit«, sagte sie, stand auf, wickelte
sich einen langen roten Schal um den Hals und griff nach ihrer Jacke
samt Rucksack. Ich tat es ihr gleich und schnappte meine Sachen.
Immer noch die Finger den richtigen Stellen meiner Handschuhe
zuteilend, eilte ich mit ihr aus dem Lokal.
Es
war mir selbst ein Rätsel, wieso ich in dieser Situation nicht
einmal zögerte. Als wäre ich ein Magnet, der zum ersten Mal auf
seinen Gegenpol traf. Bisher war stets alles abstoßend, doch zu
Elise fühlte ich mich auf unerklärliche Weise hingezogen.
Elise
nahm Anlauf und rutschte über den glatten Asphalt auf die andere
Straßenseite. Ich entschied mich dagegen, ihrem Elan nachzueifern.
Solche Späße endeten für mich Tollpatsch zwangsläufig durch
abrupte Bremsungen mit meinem Gesicht auf dem jeweiligen Untergrund.
Ich folgte ihr hastig über eine Kreuzung, wo ich sie das
Treppengeländer der U-Bahn-Station hinunterrutschen sah.
»Es
ist sau spät und dazu Sonntag. Wohin gehen wir?«, fragte ich, zu
gleichen Teilen neugierig und ungeduldig.
»Na,
ist doch klar. Wir gehen in den Zoo!«, entgegnete Elise mit einem
verschmitzten Lächeln.
Diese
Frau war das seltsamste, unberechenbarste und spannendste, was mir je
untergekommen war. Und das wollte etwas heißen.
Ich
war mal gezwungen mit anzusehen, wie sich ein erwachsener Mann zur
Selbstbefriedigung mit einer karierten Krawatte an seinem
Deckenventilator aufhing. Autoerotisches Erstickungsspiel nannte sich
das, wie ich später durch Wikipedia erfahren hatte. Diese
Technologie ermöglichte es uns heutzutage, ohne Aufwand auf
verschiedenste Informationen zuzugreifen. Sie war ein Segen.
Jedenfalls konnte er auf andere Art keine Selbstbefriedigung mehr
erlangen. Der Routine nach zu urteilen, mit der er seine Krawatte zur
Schlinge band, machte er solche Aktionen eindeutig öfters.
Dieses
Mal wollte er sich allerdings etwas ganz besonders experimentelles
gönnen und wurde daher ein bisschen zu übermütig. Er hätte den
Ventilator nicht auch noch einschalten dürfen, denn das dadurch
ausgelöste Schwindelgefühl raubte ihm die Kraft, sich rechtzeitig
aus der eng verknoteten Krawatte zu befreien. So erstickte er
schlussendlich und baumelte mit Stufe-3-Schwung eine ganze Weile im
Kreis herum. Ohne Hose. Mit voll ausgefahrener Erektion.
Die
Leute kamen echt auf die wundersamsten Ideen, wenn sie auf der Suche
nach einem neuen Endorphin-Kick waren. Du bist nicht du, wenn du
horny bist.
2.
Katzenmenschen
Da
saßen wir also. In dieser komplett leeren, mit Graffiti über Tür
und Fenster verschmierten U-Bahn, die uns mitten in der Nacht quer
durch die Stadt chauffierte. Die grellen Industrielampen im Wagon
badeten uns in weißes Licht. Sie erinnerten mich immer an das
Krankenhaus, für das ich zu dieser Zeit arbeitete. Klinisch. Steril.
Ordentlich. Die Räder der Bahn klackerten gleichmäßig und
unnachgiebig über die Schienen unserem Ziel entgegen.
Elise
war pures, ungefiltertes Leben. Ihr Kopf war sanft auf meine Schulter
gestützt. Natürlich fragte sie nicht, ob mir das zu aufdringlich
sei. Sie machte einfach. Sie wusste, dass ich es ihr sowieso erlaubt
hätte. Ihr Haar duftete nach Himbeeren. Sie summte ein Lied und
klopfte sanft die Schlagzeugspur mit ihren Fingern auf meinem Knie
nach. Ich ließ mir nichts anmerken, doch mein ganzer Körper befand
sich in höchstem Alarmzustand. Selbst eine zufällige Berührung
ihrer Haut, hätte schließlich schreckliches offenbaren können.
Trotzdem sehnte ich mich auch danach, mit ihr in Kontakt zu kommen.
Dieses Gefühl war nicht neu, jedoch so viel intensiver als ich es in
Erinnerung gehabt hatte.
»Ich
habe dich den ganzen Abend über beobachtet«, sagte sie, als wäre
das eine Info für den Zugwagon und nicht explizit an mich gerichtet.
Ich war über diese Aussage verblüfft und ging in Gedanken durch, ob
mir irgendwelche Peinlichkeiten widerfahren waren, aus denen ich mich
hätte herausreden müssen.
»Warum
das?«, fragte ich.
»Ich
sehe dich oft morgens am Bahnhof. Du bist dann wahrscheinlich auf
deinem Weg zur Arbeit. Oder zur Uni. Oder was du halt um die Zeit so
tust. Ich kellnere seit einigen Wochen übergangsweise in einer Bar.
Da wird es immer super spät und ich bin oftmals erst am frühen
Morgen wieder auf dem Heimweg. Jedenfalls sehe ich dich jeden Tag da,
auf dem gegenüberliegenden Gleis, und denk mir Geschichten darüber
aus, wie wohl dein Tag so verläuft. Dann, so zirka fünf Minuten
nachdem du konstant an mir vorbei in die Ferne gestarrt hast, kommt
dein Zug und du bist verschwunden. Doch vorhin ... da sahst du anders
aus als sonst. Ein bisschen, als wärst du nicht freiwillig dort
gewesen. Was hatte es damit auf sich?«
Reichlich
verwirrt über die Tatsache, dass sie mich scheinbar schon länger
kannte, antwortete ich:
»Genau
genommen hat Mahesh mir dazu geraten, proaktiv an die Sache zu
gehen.«
»Wer
oder was ist ein Mahesh?«, fragte sie mit einem Stirnrunzeln.
»Mahesh
ist mein moralischer Kompass«, erläuterte ich.
»Du
bist aber nicht in einer seltsamen Sekte, oder?«
Sie
hob ihren Kopf von meiner Schulter und schaute mir direkt in die
Augen. Offensichtlich hatte ich es geschafft, sie aus der Reserve zu
locken.
»Nein,
ich bin bloß Sanitäter«, entgegnete ich schmunzelnd, »und Mahesh
ist der Besitzer vom Kiosk, über dem sich meine Wohnung befindet. Er
ist älter als ein Stein und hört nicht mehr sonderlich gut. Aber er
hat in seinem Leben schon eine Menge erlebt. Deshalb nehme ich seine
Empfehlungen ernst. Krieg. Intrigen. Eine Scheidung. Eine Weltreise.
Die große Liebe. Er hat Hunderte solcher Geschichten. Es wäre ein
Wunder, wenn nicht mindestens ein Dutzend Bollywood-Produktionen auf
seinem Leben basieren würden. Ich vertraue ihm also in der Hinsicht.
Und wenn man bedenkt, an wie vielen Monatsenden ich sein
Instant-Nudel-Regal geplündert habe, sind gute Ratschläge das
mindeste, was er mir da mitgeben kann.«
»Glück
gehabt«, kicherte sie und tat so, als würde sie sich Schweiß von
der Stirn wischen, »Ich dachte schon, ich müsste hier die Notbremse
ziehen! Aber dann teile doch mal etwas von seiner Weisheit. Was ist
sein ultimativer Dating-Tipp?«
Aus
den Lautsprechern des Bahnwagons wurde unsere Haltestelle angesagt.
»Er
hat gesagt, man soll sich stets einen Partner suchen, der einem fünf
Dinge lehren kann, die man nicht schon wusste. Klingt erst einmal
nicht so schwer, aber es soll äußerst effektiv sein. Das sortiert
nämlich nicht nur Idioten und Langweiler aus, sondern zeigt auch
deutlich, wer sich um dich bemühen würde. Wer sich Gedanken um dich
macht, dich beeindrucken will. Es ernst mit dir meint.«
Elise
hielt inne und blickte nach oben, als würde sie einen Moment darüber
nachdenken.
»Das
ist ziemlich clever. Mahesh scheint tatsächlich zu wissen, wovon er
redet«, stimmte mir Elise zu, während wir auf das U-Bahn-Gleis
traten. Sie trug einen gut gefütterten Armee-Parka, auf den sie an
willkürlichen Stellen Aufnäher genäht hatte. Einer davon sah aus
wie ein Parkverbotsschild. Im inneren des roten Kreises befand sich
allerdings kein Auto, sondern ein Kruzifix. Ein ziemlich eindeutiges
Statement. Es war das Logo der Punkband Bad Religion. Sie hatte
Geschmack. Ein anderer Aufnäher zeigte das Bild eines Katzenbabys.
Darüber prangte das Akronym »ACAB«. Direkt darunter wurde diese
Abkürzung, welche man sonst wohl in einem etwas anderen Kontext
kannte, mit »All Cats Are Beautiful« erklärt. Elise war eine
Rebellin.
»Machst
du das eigentlich öfter?«, fragte ich.
»Was
meinst du?«, antwortete sie, als ob sie nicht ganz genau wüsste,
worauf ich hinaus wollte.
»Nachts
irgendwo einbrechen.«
Sie
lachte. Meine Knie wurden weich.
»Trägst
du etwa eine Wanze?«, fragte sie mit erzwungen ernster Miene, bevor
sie wieder ins Lachen zurückfiel.
»Man
kann bei solchen Sachen nie vorsichtig genug sein. Ich sollte dich
zwingen all deine Kleidung abzulegen! Aber da es wohl bei dieser
Kälte eh nicht viel zu sehen geben würde, belasse ich es vorerst
bei einer Verwarnung.«
»Wie
gütig von Ihnen«, antwortete ich scherzhaft.
Sie
wandte den Blick von mir ab, als wir vor den Toren des geschlossenen
Zoos ankamen. Offensichtlich suchte sie eine Schwachstelle in den
unbezwingbaren Verteidigungsanlagen der Burg, die es zu infiltrieren
galt.
»Ich
muss allerdings gestehen, dass ich schon länger mit dem Gedanken
spiele, eines Nachts alle Gehege in diesem Gefängnis zu öffnen.«
»Wow.
Das ist ja ganz schön drastisch.«
»Manchmal
muss man halt ein wenig nachhelfen. Sorg dafür, dass sich die 10
reichsten Männer der Welt mit HIV infizieren. Was wird passieren?«
»Vermutlich
werden dann, binnen kürzester Zeit, wie durch Zauberhand zehn
verschiedene Heilmittel entdeckt.«
»Bingo!«,
sagte sie trocken, bevor sie ihren Rucksack mit geübter Leichtigkeit
über die Mauer warf.
»Und
nun sei ein Gentleman, und hilf deiner Dame über die Mauer.«
Meine
Dame. Hm.
Daran
hätte ich mich gewöhnen können.
Elise
war eine Naturkatastrophe. Eine Lawine. Ein Wirbelsturm. Langsam
verstand ich, warum Unwetter im Fernsehen immer Frauennamen trugen.
Sie hatte mich im Sturm erobert.
Es
handelte sich um einen kleinen, wenig besuchten und mittlerweile in
die Jahre gekommenen Zoo. Wachpersonal und Alarmanlagen gab es nicht.
»Was
ist, wenn wir auf der Videoüberwachung auftauchen? Die müssen dich
doch sicher längst kennen«, bohrte ich nach, während ich ihren
Hintern über die Mauer schob.
»Oh,
ich muss auf deinem Beipackzettel wohl übersehen haben, dass du
Spuren von Feigheit enthalten könntest«, feuerte Elise zurück.
»Selbst
wenn wir davon erfasst werden. Solange wir alles so hinterlassen wie
wir es vorfinden, gibt es für die Zoobetreiber keinen Grund, sich
die Aufnahmen anzuschauen. Oder denkst du wirklich, dass sie sich in
Zeiten von Netflix tatsächlich jeden Tag die Überwachungsbänder
reinziehen? Abgesehen davon, hat die Stadt gar nicht mehr die Kohle,
um all die Technik und Instandhaltung zu bezahlen. Diese Kameras sind
aller Wahrscheinlichkeit nach sowieso Attrappen.«
Ihre
Schlagfertigkeit konnte selbst routinierteste Stand-Up-Comedians
schachmatt setzen. Ich hätte ihr geraten, Politik zu machen, wenn
ich nicht das Gefühl gehabt hätte, dass sie das ihrer Meinung nach
doch schon längst tat. Stattdessen versuchte ich, mehr über sie zu
erfahren.
»Was
ist denn eigentlich dein Lieblingstier?«
»Ich
mag alle Tiere«, erklärte sie, »Aber wenn ich selber eins sein
könnte, wäre ich vermutlich ein Shrimp.«
»Ein
was?«, fragte ich verblüfft.
»Ein
Shrimp. Eine kleine Garnele. Du weißt schon, diese kleinen
Krabbentierchen, die am Meeresboden rumkrebsen und ein bisschen wie
Penisse von alten Männern aussehen.«
Reichlich
verwirrt über die Antwort, hakte ich nach.
»Ich
weiß, was Shrimps sind. Aber warum möchtest du ausgerechnet das
sein?«
»Ich
hab mal gelesen, Shrimps haben ihr Herz im Kopf. Und jetzt überlege
mal, wie viele schlechte Entscheidungen dir erspart geblieben wären,
wenn du sie ausschließlich mit dem Kopf getroffen hättest!«
»Einige«,
stimmte ich ihr knapp zu.
Wir
erreichten die erste Anlage. Es war der Streichelzoo. Natürlich
waren die Ziegen und Ponys, aber auch die Flamingos, Elefanten und
Nilpferde, die in den anderen Gehegen anzutreffen waren, um diese
Jahreszeit, und vor allem Nachts, nicht mehr draußen.
»Ich
hatte gehofft, ein Pferd zu sehen«, seufzte Elise.
»Wow.
Ich hätte nicht gedacht, dass du ein Pferde-Mädchen bist«, entfuhr
es mir erstaunt.
»Oh,
wenn du wüsstest! Ich liebe Pferde. Ich wurde sogar von einem
entjungfert.«
»Wie
bitte?!«, prustete ich heraus.
Elise
lachte herzhaft über meine Reaktion.
»Nicht
so wie du jetzt denkst, du Ekel! Ich war mit elf oder zwölf Jahren
große Reitsportenthusiastin. Und bei jungen Mädchen kann dann beim
Reiten auch das Jungfernhäutchen reißen.«
»Entjungpferd
also«, sagte ich.
Sie
rollte mit ihren großen Augen, lachte dann aber noch lauter. Wir
verstanden uns außerordentlich gut und es fühlte sich sofort an,
als würden wir auf derselben Wellenlänge surfen.
Elise
streckte mir einladend ihre Hand entgegen und neigte erwartungsvoll
ihren Kopf zur Seite. Ich erstarrte für einen Moment vor Angst, sie
berühren zu müssen, bis ich realisierte, dass ich ja noch
Handschuhe trug. Ungeduldig griff sie einfach nach mir. Ich kniff die
Augen zusammen und spürte einen Ruck. Elise zog mich am Arm weiter
den Pfad entlang. Ich Idiot. Ihre Schönheit war regelrecht
betäubend. Sie strahlte wie eine Supernova, alles und jeden in Licht
einhüllend. Sie brannte wie ein Meteor, der auf die Erde krachte.
Und man konnte sich nicht einmal sicher sein, ob sie darüber
Bescheid wusste. Meine Theorie: Sie wusste es ganz genau. Es war ihr
nur absolut scheißegal.
Bei
den Seelöwen erzählte sie mir, dass es rosafarbene Delfine gab. Und
weshalb Delfine ihr Image als liebenswürdige und friedliche Tiere
gar nicht verdienten.
»Die
Männchen drücken oft Jungtiere so lang unter Wasser, bis diese
ersticken, damit die zeugungsfähigen Weibchen wieder früher Lust
auf Sex haben. Auch Gruppenvergewaltigung ist bei denen nicht
unüblich. Und dann lächeln dich Delfine die ganze Zeit noch so
eiskalt an«, schilderte sie. Sex und all die kleinen Spielchen, die
man spielen musste, um welchen zu haben, waren also nicht nur beim
Menschen total bescheuert.
Beim
haarigen Haufen friedlich schlafender, miteinander kuschelnder
Alpakas, kamen wir uns erstmals näher, und als wir uns bei den
Pinguinen, deren Paarungsrufe man im gesamten Zoo vernahm, auf einen
großen Felsen setzten, wurden auch die Themen ernster.
»Meine
Mutter hat Krebs im Endstadium. Sie wird nicht mehr lange
durchhalten«, berichtete ich ihr, worauf sie, vermutlich nicht
wissend, was das angemessene Verhalten bei solchen Informationen war,
mit Schweigen reagierte.
»Ich
besuche sie so oft ich kann. Aber ich bin schon sehr, sehr lange auf
den Moment vorbereitet, wenn sie von uns geht. Auch die Ärzte geben
ihr nicht mehr lange«, erzählte ich.
»Wie
kann man auf so etwas vorbereitet sein?«, fragte sie, während wir
es uns auf diesem Felsen gemütlich machten, von dem aus der
Tierpfleger sonst seinen antarktischen Untertanen sonst immer kleine
Fische zur Belustigung des Publikums zuwarf.
»Glaub
mir, das ist schwer zu erklären«, wich ich kopfschüttelnd aus.
»Doch
ich bin froh, dass sie so lang durchgehalten hat. Sie war immer eine
Kämpfernatur und diente mir oft als Vorbild. Wenn sie trotz der
Krankheit ein Kind erziehen konnte, dann würde ich auch die nächste
Matheklausur überleben.«
Ich
merkte, dass ihr gefiel, wie ich über meine Erziehung sprach. Es war
ungewohnt, dass eine Frau solches Interesse an mir zeigte.
»Du
erinnerst dich trotz allem also positiv an deine Kindheit?«
Ich
zögerte ein wenig, von den wirklich negativen Dingen anzufangen,
schließlich war das hier ja gerade mal unser erstes Date.
»Ich
habe Probleme mich an bestimmte Dinge zu erinnern. Klar, niemand weiß
mehr jedes einzelne Detail darüber, was man als Kind alles gemacht
oder erlebt hat. Aber es gibt bei mir in der Hinsicht die ein oder
andere Lücke. Dinge, die ich vermutlich nicht grundlos verdrängt
habe«, sinnierte ich.
Meine
Antwort war ehrlich. Zum Beispiel wusste ich nicht, wann oder warum
genau ich diese Zukunftsvisionen hatte. Natürlich hatte ich nicht
vor, sie in dieses Geheimnis einzuweihen. Davon zu erzählen, dass
man von toten Menschen heimgesucht wurde, war niemals eine gute Idee,
nicht mal, wenn sie Bruce Willis wäre. Es sei denn natürlich, ich
hätte nach einem Weg gesucht, eine einstweilige Verfügung gegen
mich erwirken zu lassen. Doch mir war bereits klar, dass ich sie nach
dieser Nacht unbedingt wiedersehen wollte.
Der
Mond spiegelte sich im weitläufigen Pool der Anlage, an dessen Ufer
einige Pinguine miteinander verkehrten. Fast romantisch.
»Warst
du schon mal so richtig verliebt?«, fragte sie mich, vermutlich, um
das Thema zu wechseln.
»Ich
bin nicht sicher«, antwortete ich ehrlich, »Rückblickend ist es
schwer zu bewerten, was man sich so eingeredet hat. Und du? Abgesehen
von deinem One-Night-Stand mit Jolly Jumper, versteht sich.«
Da
war es wieder. Dieses erfrischende Lachen. Sie holte eine
Thermoskanne aus ihrem Rucksack und schenkte uns Tee ein, während
Pinguine vergeblich nach unseren, in ihr Gehege baumelnden, Füßen
schnappten.
»Zoophilie
ist eine ernste Sache!«, erklärte sie mit unverwechselbar
sarkastischem Unterton.
»Wusstest
du, dass Dänemark, aufgrund seiner liberalen Gesetzeslage in diesem
Bereich, das Thailand der Tiersex-Touristen ist? Es gibt dort
professionell betriebene Tierbordelle.«
»Nein,
das war mir gänzlich neu«, sagte ich lachend, eindeutig überfordert
von diesen Informationen. Sie seufzte kurz und rückte dann noch
näher zu mir auf.
»Dann
war das aber eine ganz schön unromantische Nummer Fünf.«
»Nummer
Fünf? Wovon redest du?«, fragte ich sie mit einem ziemlich
verwirrten Gesichtsausdruck.
»Ja,
Nummer Fünf! Denk an die Worte deines Jedi-Meisters Mahesh. Das war
jetzt die fünfte Sache, die ich dir beigebracht habe«, erklärte
sie und küsste mich auf den Mund.
...
Keine Kommentare:
Kommentar veröffentlichen